Schluss mit dem Wirrwarr: Profi-Coach, Kickbox-Weltmeister und Sportwissenschaftler Daniel Gärtner erklärt, warum, wann und wie Kraftsportler ihre Muskulatur dehnen sollten.
Vor oder nach dem Workout? Kurz oder lang? Dynamisch oder statisch? Und wozu überhaupt? Wenn es ums Thema Dehnen geht, gibt es nicht nur viele Fragen, sondern auch unzählige unterschiedliche Antworten. „Das liegt daran, dass die Wirkung von Dehnmethoden von vielen Faktoren abhängt und deshalb nicht pauschalisiert werden kann“, sagt Dr. Daniel Gärtner, der im Bereich Krafttraining und Beweglichkeit an der Technischen Universität München forscht. „Trotzdem gibt es ein paar grundlegende Empfehlungen für Kraftsportler.“
Vor dem Krafttraining?
Aufwärmen ist gut, aber besser nicht mit intensivem Stretching – sonst knickt die sportliche Leistung kurzfristig ein. Vor allem statische Dehnübungen mit einer Dauer ab 20 Sekunden, bei denen man an die Beweglichkeitsgrenze geht, können die Maximal- und Schnellkraft in den nachfolgenden Minuten verringern. „Sie provozieren den sogenannten Creeping- und Hysterese-Effekt. Das bedeutet, dass innerhalb der Muskulatur nicht mehr ausreichend viele Brückenbindungen zwischen den Proteinen Aktin und Myosin hergestellt werden können, um Muskelkontraktionen zu ermöglichen“, sagt Gärtner.
Ganz anders sieht die Sache mit sanftem Vordehnen aus. Es verbessert die Körperwahrnehmung, erhöht den Bewegungsradius in den Gelenken und kann dadurch sogar Fehlhaltungen bei der Übungsausführung verringern. „Mögliche negative Effekte des Dehnens bleiben hier aus, weil die Reize nur kurz und unterschwellig wirken.“
Wie Vordehnen im Idealfall aussieht? Die Zielmuskulatur wird langsam in eine sanfte Dehnstellung gebracht und für fünf bis zehn Sekunden statisch gedehnt. Unterstützend kann in der Endposition ein paar Mal dynamisch nachgefedert werden.
Nach dem Krafttraining?
Bankdrücken und Curls sind erfolgreich absolviert, der Pump ist auf dem Maximum – jetzt noch ordentlich nachdehnen? Lieber nicht: „Studien zeigen, dass intensives und langes Dehnen nach dem Krafttraining die Mirkotraumen innerhalb der Sarkomere verstärkt. Das bedeutet, dass der Muskelkater sogar noch stärker wird“, warnt Gärtner. Besser wäre leichtes Dehnen – wie oben beschrieben – oder der Einsatz einer Faszienrolle. Allerdings nur, wenn die Massage sanft und oberflächlich durchgeführt wird. „Rollt man zu lange oder gar zu tief, setzt das Entzündungsprozesse in Gang, welche die Regeneration negativ beeinflussen.“
Eigene Einheit für intensives Dehnen
Rund ums Workout sollten Kraftsportler also nur leicht Dehnen. Außer natürlich, sie bearbeiten die nicht beanspruchte Muskulatur – stretchen also zum Beispiel lange und intensiv die Beine, nachdem sie das Brusttraining absolviert haben. Ideal wäre allerdings eine eigene Beweglichkeitseinheit an trainingsfreien Tagen. Dabei ist es am effektivsten, immer mehrere Dehnmethoden anzuwenden – statisch und dynamisch, passiv und aktiv. Übrigens sollte man auch beim Stretching auf die Regeneration achten: Nach sehr intensiven Dehnungen benötigt der Muskel-Faszienkomplex 24 bis 48 Stunden Pause.
Beweglichkeit und Dehn-Hypertrophie
Egal ob nach dem Training oder in einer eigenen Einheit am Wochenende: Stretching zahlt sich auch für Kraftsportler aus – nicht nur wegen der verbesserten Beweglichkeit. „Langfristig sorgt regelmäßiges Dehnen sogar für eine strapazierfähigere Muskulatur, da sich Muskelgewebe nach Dehnreizen verdickt und eine ähnliche Muskelproteinsynsthese in Gang gesetzt wird wie beim Krafttraining. Auch die sogenannte Ruhespannung innerhalb der Muskulatur nimmt nicht ab, sondern steigt, weil sich das Gewebe anpasst. Man spricht sogar von einer Dehnungs-Hypertrophie.“
Verantwortlich dafür ist vorwiegend Titin, ein spiralförmig aufgebautes Filament in der Muskulatur. Es sorgt dafür, dass die einzelnen Muskelfilamente nach einer Dehnung wieder an ihren Ursprungsort zurückfinden. Regelmäßiges Stretchen verdickt das Titin, macht es strapazierfähiger und elastischer.
Im Durchschnitt kann ein Mensch seine Bewegungsreichweite durch ein mehrwöchiges Dehnungstraining um 15 Prozent steigern. Trotzdem kann nicht jeder einen Spagat schaffen – denn wie dehnbar die Muskulatur ist, ist grundsätzlich genetisch vorgegeben.